Unbeteiligt sitzt der Wächter am Tor. Versteckt im Schatten der Türme, die vor 800 Jahren ein Eingang waren. Die lange Außenmauer macht neugierig mit ihren großen Löchern, verursacht durch die zusammenstürzenden Urwaldriesen. Mittendrin in Angkor, im Heiligtum der Khmer, beginnt eine Reise nach Innen. Nur kurz ist der Weg, schmal und schattig, bis zur Brücke, die damals den Zugang zum Tempel gestaltete. Ich bin im Prasat Ta Prum, dem Dschungeltempel, dessen Existenz mit Fängen der Urwaldriesen verwoben war und teilweise noch ist. Heute sind die Wurzeln der Bäume Gegenstand der Architektur, sie bedecken mit ihren runden Formen die Zerstörung. Sie sind Ursache und Wirkung zugleich. Viele Bäume sind inzwischen verschwunden, doch einige hat man bei der Rekonstruktion gelassen, versehen mit Fußwegen und Fotoplattformen.
Ta Prum zieht die Touristen an, er ist Inbegriff dessen, was man gehört hat von den gewaltigen Kräften, mit denen der Urwald die Werke der Menschen sprengt. Hier entschlossen sich die Archäologen der L´École Francaise d´Extréme Orient, einen Tempel halbwegs so zu lassen, wie man die gesamte Anlage bei der Entdeckung vorgefunden hat. Vergänglichkeit ist hier das vorherrschende Motiv. Wie die Arme von vorsteinzeitlichen Meereskraken durchdringen die Wurzeln der Bäume Türen und Fenster, um irgendwann das Gewölbe zu sprengen. Sie zerstören die dicksten Wände, heben tonnenschwere Decken und wachsen gleichzeitig filigran in jedem Ritz um ihn anschließend bersten zu lassen.
Es ist die pure Lust am Zerstören, aber gleichzeitig halten die Wurzeln alles zusammen, verbinden die getrennten Teile. Meterbreite Standwurzeln bedecken die Mauern. Im Schatten findet man die eigenartigsten Insekten. Ein schwarzer, 40 Zentimeter langer, fingerdicker Tausendfüßler wirkt wie ein winziger Regenwurm im Geflecht der Baumwurzeln. Das hier ist ein neues eigenes Kunstwerk. Zumindest war es das einmal. War es damals ein Tempel, war es gestern die Collage einer besessenen Natur, jede menschliche Idee zu zerstören, ist es heute ein wenig Disney World. Nichts wäre geblieben in weiteren Jahren, der Urwald hätte sich die Fläche zurück geholt, sie unberührt gelassen von menschlichen Restaurationsanstrengungen. Doch heute entreißt man der Natur die Tempel, die sie mühsam erobert hatte, wieder. Hier wird viel darüber diskutiert, wo Restaurieren anfängt und aufhört.
Mühsam besteige ich das glatte Dachgewölbe. Verboten ist es nicht, aber auch nicht gewünscht. Von hier oben wirkt die ganze Anlage wie ein homogener Teppich. Moosgrüne Flechten, geschwärzter Sandstein, die Reliefs eingerahmt von Blättern. Von unten wachsen baumgewordene Säulen in den Himmel, ein gigantisches Labyrinth für die Sinne. Dazu der melodiöse Ton des nahen und fernen Urwalds. Ein Surren und Pfeifen, fast hört man das Wachsen der Baumriesen.
Ta Prum ist an einigen Stellen noch Wirklichkeit gewordene Seele, hier kann jeder die Schwingungen einer Zeit spüren, die weit vor ihm liegt. Ein Gefühl der Demut schleicht sich ein, ein Gefühl, das sonst den Bergsteiger ereilt auf den kahlen Spitzen hoher Berge.
Zwei Baumarten sind verantwortlich für diese gigantischen Kräfte der Natur. Der Kapokbaum und die Würgefeige. Sie beginnen als kleine versamte Setzlinge in winzigen Ritzen und Rillen. Von dort wachsen sie irgendwann in den Boden und durch diesen gestärkt beginnen sie ihre Zerstörung.
Ta Prum war einst ein Kloster, ein Raum der Begegnung mit dem eigenen Geist. Im Tempel wurde eine steinerne Schrift gefunden, die besagt, dass hier 18 hohe Priester, 2700 Mönche, 600 Tänzer und 12000 Bedienstete lebten. Es muss sehr eng gewesen sein. Auch heute bietet Ta Prum Rückzug und Einsamkeit und den Eingang zum Ich, für den, der es will und noch kann.