Da steht der Ausländer, nennen wir ihn Georg, auf der einen Seite und möchte gerne auf die andere Seite der Straße. Wiederholt hat Georg den Fuß auf den Zebrastreifen gesetzt, doch es bleibt der Eindruck, dass diese Handlung nur die Geschwindigkeit der passierenden Zweiräder erhöht. Lautstark ruft er daher nach dem Vietnamesen, den er auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckt hat. Georg will doch nur wissen, wie man da rüber kommt. Schon dieses Unterfangen nötigt ihm viel Geduld ab bei dem Lärm hier am Centralmarket in Saigon. So will und will der Vietnamese da gegenüber ihn nicht verstehen.
Das kann passieren. Jeden Tag. Und das schon 20 Jahre. Denn so war es auch, als ich das erste Mal dort war. Da hat sich nichts verändert, nur die Mopeds sind schicker, nicht schneller. Und Autos gibt es immer noch nicht, naja wenige. Und so wird es bleiben die nächsten 20 Jahre. Denn Autos passen hier überhaupt nicht rein.
Mit Sicherheit steht am Anfang jeder Gast der Stadt ungläubig vor diesem Straßenchaos. Erst langsam begreift er das System. Wer die Straße überqueren will ohne Ampeln, der sollte damit warten und es nicht am 1.Tag gleich probieren. Denn das ist die schwarze Piste, für Anfänger nicht geeignet.
Man benötigt sehr viel Selbstbewusstsein und vor allem Mut. Beobachtungen von der Straßenseite und Training im Park kann nicht schaden. Irgendwann kommt dann der Tag, man steht am Straßenrand und will hinüber. Eine kleine Aufgabe für den Ungläubigen, eine große Aufgabe für den Gläubigen.
Jeder 1. Schritt Richtung Straße erhöht die Geschwindigkeit der Zweiräder, doch der 2. Schritt beruhigt bereits die Verkehrsgegner. Diese Hürde muss genommen werden. Denn erst jetzt merken die Gegner, sie werden ernst genommen. Der 3. Schritt ist die Eintrittskarte in den Verkehr. Nichts geht mehr zurück. The point of no return. Und das bei drei Schritten von fünfzig manchmal sind es hundert.
Nun heiß es in gleichmäßiger Geschwindigkeit die Richtung einzuhalten. Auf einer Geraden bleiben. Eine Gerade ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten. Es ist keine Kurve. Nicht Verlangsamen, nicht Beschleunigen und vor allem im stumpfen Winkel gegen den Verkehr gehen. Bereits vor Antritt sollte das Ziel gefixt sein, der normale Abtrieb durch den strömenden Verkehr ist hier zu vernachlässigen, ja mehr noch, ihn gilt es zu ignorieren. Immer dagegen halten.
Im stumpfen Winkel die Augen der 1000 Gegner fixieren aber auf keinen Fall ablenken. Sympathiebekundungen oder Beschwerden sind hier völlig fehl am Platze. So kommt man da nie rüber. Tödlich ist dagegen jeder Rückzug. Schon alleine ein Stoppen ist häufig das Ende für viele Verkehrsteilnehmer. Denn keiner stößt mit sich alleine zusammen. Das Stoppen oder noch schlimmer, das rücksichtsvolle Vorbeilassen durch höfliche Verlangsamung mit Verbeugung hat schon manchem Ausländer das Leben gekostet oder zu einer ungewollten Veränderung des Schlafplatzes geführt oder im ungünstigsten Fall die Rückreise beschleunigt. Manchmal in der Waagerechten in Zink liegend.
Also weiter im Verkehr, nur mutig, es sind nur noch 30 Meter. Doch dann kommt ein Auto. Was macht das denn hier, durchzuckt es den Teilnehmer. Ja unglaublich, ein Auto auf der Straße, in diesem Verkehr und es bewegt sich doch. Was tun?
Autos kann man getrost vernachlässigen, sie kriechen dahin, die Besitzer haben Angst vor Kratzern und bremsen alles aus. Sie passen einfach gar nicht hier her. Einfach weitergehen, immer weitergehen. Möglichst das Auto ignorieren, es ist nur groß. Ein wenig mehr Aufmerksamkeit ist da schon beim Passieren des Autoschattens gefordert. Hier sind erhöhte Geschwindigkeiten zu erwarten im Verkehrsfluss. Stoische Ruhe macht sich breit beim Teilnehmer, ja eine gewisse Arroganz ist zu verspüren, gegenüber denen, denen das hier nie gelingt. Man ist mittendrin und voll dabei.
Rätselhaft bleibt, wie langsam man doch eigentlich geht und wie schnell die Motorbikes rechts und links und vor einem her- und vorbeifahren. Was hinten geschieht weiß man ja nicht, denn umdrehen ist auf keinen Fall ratsam. Geschwindigkeit mal Weg mal Zeit oder war es durch Zeit? Hier kann man was berechnen.
Die andere Seite der Straße kommt in Sicht, die Augen wenden sich bereits dem Ziel zu. Ganz falsch. Im System bleiben, das Ziel nicht ansehen, mit den Füssen berühren ist das Ziel, später. Eventuell die überhöhte Bordsteinkante verpassen und zum Schluss noch fallen? Wie peinlich.
Kinder zu fünft auf dem Moped, keine Fotos machen, nicht jetzt, Lasten-Honda-Dreams, drei Meter breit, eine echte Herausforderung für den inneren Rhythmus. Noch 14 Mopedreihen, höchstens, dann noch acht. Bald sind ist keine mehr, man ist da, auf der andere Straßenseite, da liegt das Ziel. Wer sich da zum Schluss noch unsicher aber siegessicher umdreht, verliert auf den letzten Metern.
Und dann ist es geschafft. Unglaublich. Eine Straßenüberquerung in Saigon außerhalb einer Ampelkreuzung. Dort gibt es ganz andere Bedingungen. Auch sehr eigene. Das ist Hardcore. Doch dazu später.
Leider gibt es noch keine Bänke hier an den Straßen von Saigon. Es würden hier wohl nur noch erschöpfte und angespannte Ausländer sitzen. Die einen, die rüber wollen und die anderen die es hinter sich haben. Langsam wird einem klar, warum man auf der Seite bleibt, wo das Hotel liegt. Da wo man eincheckt, da bleibt man auch. In der Regel. Denn eine Überquerung schafft man nur einmal während seines Aufenthalts. Zurück geht da nichts mehr. Der Flieger warte nicht.
Und Georg?
Schließlich fragt Georg einen Vietnamesen auf seiner Straßenseite, wie das denn geht hier so ohne Ampel, wo doch niemand bremst für einen Fußgänger und wie der dort drüben denn da rüber gekommen ist. „ Der da drüben ist dort geboren“, antwortet der befragte Vietnamese und geht auf seiner Straßenseite des Weges. Schon ein Leben lang.
Die Lage habt ihr packend beschrieben! Das liest sich wie ‘Urlaub in Todesgefahr’. Eigentliche wollte ich mal dahinfahren, aber jetzt bin ich am zweifeln. 🙂
So ist es aber auch in anderen Metropolen.
Versuche mal in Kairo eine Hauptstraße zu überqueren! Die Autofahrer halten sich an keine erkennbaren Regeln und fahren wie die Wahnsinnigen. Der Verkehr ist extrem dicht. Man muss dort aufgewachsen sein, um im Verkehrsgewühl klarzukommen.
Super Artikel. Saigon ist der Wahnsinn. Genau so ist es, wenn man zur anderen Straßenseite möchte. Echt hardcore.